Chorgestühl – Nachträge, Besonderheiten, Zusammenhänge

Eine der beeindruckendsten Darstellungen des Chorgestühls ist der Kopf eines Mädchens, der zur Hälfte skelettiert ist (einem Totenkopf gleicht).


Das Leben und Sterben, das Diesseitige und Jenseitige wird im Chorgestühl auf verschiedenartige Weise thematisiert. Der Kopf des Mädchens bezieht sich auf die Wunderwirkung Jesus: Jesus wird zu einem Mädchen gerufen, welches offensichtlich schon tot war. Die Trauer war groß. Jesus besänftigte: „Sie ist nicht tot, sie schläft nur.“ Er wurde ausgelacht. Jesus aber wandte sich dem Mädchen zu und sprach: „Talita kum“ – übersetzt: Mädchen, ich sage Dir – steht auf! Da stand das Mädchen von der Stelle auf.

In der gleichen Reihe des Chorgestühls ist ein kleines Kind dargestellt, in gekrümmter Haltung, als würde es erdrückt werden oder tot sei. Offensichtlich weist hier der Kunstschreiner auf die hohe Kindersterblichkeit der damaligen Zeit hin.

Es sei hier auch noch auf die Misericordien hingewiesen. Chorgestühle wurden seit dem Hochmittelalter mit Misericordien, mit Klappsitzen versehen, die sich hoben, wenn ihr Benutzer aufstand. Sie waren als Stütze für lange Stehzeiten gedacht. Ursprünglich waren sie wohl nur für ältere, kranke oder geschwächte Mönche oder Chorherren gedacht. – Der Begriff stammt vom lateinischen Wort misericordia = „Barmherzigkeit“.
Oft genug klapperten diese Sitze laut und vernehmlich, wenn sie beim Aufstehen der Mönche klappten – zum Verdruss der Andächtigen: „Halt die Klappe!“ Dieser Spruch leitet sich genau daraus ab. – Für die meisten Besucher, Betrachter des Chorgestühls bleiben die Darstellungen unter den Misericordien verborgen. Ein vorsichtiger Blick darunter lohnt sich.

Hier noch Gedanken, welche auf Zusammenhänge im Chorgestühl hinweisen:

Mit den vier Heiligen (Hl. Barbara, Hl. Katharina, Hl. Margarete und Hl. Maria) war der Erschaffer des Chorgestühls auf der Höhe seiner Zeit. Diese vier Heiligen waren damals die wichtigsten. Sie bilden im Chorgestühl ein Viereck: Vorne zwei links und rechts. Ebenso zwei hinten, dem Hochaltar zu. Somit rahmen sie das gesamte Gestühl ein.
Die Hl. Maria (auch die zweite Eva genannt) steht in unmittelbarer Nähe zum Baum der Erkenntnis mit Eva, welche den Adam verführt.

Der Greif schaut von der anderen Seite des Gestühls mit Argusaugen hinüber zur Darstellung des Baumes. Gemeint ist der Baum des Lebens, welcher im Paradies durch Menschen nicht auch noch zu Schaden kommen soll.

Wie im Einzelnen ja schon darauf aufmerksam gemacht wurde, stehen sich im Chorgestühl zwei Welten gegenüber: Die Welt des Lichtes, des Glaubens und der Heiligen – Die Welt des Dunklen, der Verführung, des Satans (des Bösen). Dazwischen steht der Mensch mit seinen Zweifeln und unterschiedlichen Bedürfnissen. Im späten Mittelalter dominierte eine einfach Weltsicht: das Gute und das Böse, das Helle und das Dunkle, eine Polarisierung, wie man sie auch im Märchen kennt. Wenn man in die heutige Zeit schaut, dann merkt man, dass diese Polarisierung nach wie vor wirkt. Die befreienden Gedanken von Jesus wollen deshalb umso mehr verstanden werden. Sie geben uns auch heute noch Orientierung und Zuversicht ohne eingeengt zu sein.

Hans Kern war aber noch auf anderer Weise sehr aktuell. Er brachte die neuen Strömungen der Renaissance zum Ausdruck. Gemeint sind die zwei Darstellungen des Bauers und seiner Frau. Hier wird das aufbrechende, vermehrte Selbstbewusstsein des Volkes hervorgehoben. Die zwei Darstellungen sind bewusst dem Volke zugewandt.
Ebenfalls zum neuen Selbstbewusstsein gehörte im ausgehenden Mittelalter die Darstellung der Schaffenden, der Künstler: Im Gegensatz zu dem Bauern mit seiner Frau platziert sich Hans Kühn mit seiner Werkstatt dem Hochaltar zugewandt. Die Nähe zum Geistlichen, zum Göttlichen wird hier gesucht.

TD

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